STORY: Can‘t hold us down

GASTBEITRAG von Ronja

Eine Kleine Reise in die Vergangenheit: Wir schreiben das Jahr 2003. Ich selbst war damals 14 Jahre alt und natürlich mitten in der Pubertät. Mein Musikgeschmack orientierte sich damals schon hauptsächlich an Black Music, aber natürlich war ich auch für Pop zu begeistern. In dem Alter empfindet man noch tausend bisher unbekannte Emotionen, wenn man tolle Songs hört. Man fühlt sich vielleicht zum ersten Mal richtig verstanden.

Gegen den Sexismus

Beim Song von Christina Aguilera, zum damaligen Zeitpunkt Dirty X-Tina, die sich vin ihrem Teenie-Image emanzipierte, aufbegehrte und sich selbst neu erfand, und ‚Lil Kim, fühlte ich aber noch keine großen Emotionen, als bei meinen ersten Discobesuchen dazu tanzen zu wollen. Den Inhalt verstand ich kaum. Zum einen war mein 8. Klasse-Schulenglisch natürlich bis dato nicht ausreichend. Zum anderen konnte ich die Dimensionen, die in dem Song thematisiert werden, noch nicht ganz fassen. Ich mochte einfach den Klang und das Musikvideo, bei dem David LaChapelle Regie führte. Mir gefielen bereits als Teenager seine schrillen, popkulturellen Bilder. Gerade Das Outfit von X-Tina traf meinen Geschmack. Ich stand damals voll auf den Ghetto Look. Zugegeben: aus heutiger Sicht ist das Video durchaus problematisch zu betrachten und würde bei der mittlerweile herrschenden cultural awareness zu Recht viele auf die Barrikaden rufen.

Löst man jedoch die Fremdvisualisierung durch einen Regiesseur vom Inhalt, hat der Song aber eine wichtige Message, die damals wie heute unterschätzt wurde.

In meinen Augen ist es eines der wichtigsten feministischen Hymnen der Popmusik und zur damaligen Zeit definitiv seiner Zeit voraus. Destiny‘s Child betrieben beispielsweise noch im Jahr davor mit ihrem Song „Nasty Girl“ fleißig Slutshaming. Beyoncé wurde erst gut zehn Jahre später zu unserer aller geliebten R‘n‘B-Königin, die mit fettem FEMINIST-Banner im Rücken auf Tour ging. Aber von all dem hatte ich mit meinen 14 Jahren natürlich keine Ahnung.

„If you look back in history it‘s a common double standard of society“

Erst Jahre später, mit Anfang Zwanzig, begann mein feministisches Bewusstsein sich zu entwickeln. Auch mit Hilfe der Popkultur und ihrer Musikerinnen und deren feministischen Songs. Meine Begeisterung für das Thema rief mir auch „Can‘t hold us down“ wieder ins Gedächtnis und wurde fortan bis zum Erbrechen gehört. Zum ersten Mal verstand ich bewusst, worum es in dem Song überhaupt ging. Ich konnte mich damit identifizieren und empfand wieder die Begeisterung für Musik, die ich hauptsächlich als Teenager hatte. Ich musste beim Hören feststellen: auch 2017, bald 15 Jahre später, ist der Song hochaktuell. Würde Christina ihn neu veröffentlichen, die Verkaufszahlen gingen angesichts der aktuellen Entwicklung, wahrscheinlich durch die Decke. Aber bitte nur mit Musikvideo, das keine Minderheiten, auch wenn unbeabsichtigt, stereotypisiert!

Dass Frauen öffentlich noch vielerseits als Sexobjekt dienen: gar kein Problem für die breite Masse. Weibliche Sexualität objektifiziert geht überall voll klar. Selbstbestimmt? Nein, danke!

Zurück zum Song: Er beschreibt schlicht und einfach sehr treffend, die Doppelstandards, die nach wie vor für Männer und Frauen in unserer Gesellschaft herrschen. Dass wir selbst in der westlichen, vermeintlich aufgeklärten Welt keine Gleichberechtigung der Geschlechter haben, ist Fakt. Dies fängt bei veralteten Rollen-Klischees an und geht über die Gender Pay Gap bis hin zu unterschiedlich wahrgenommener Sexualität der Geschlechter. Auch heute sorgt man als sexuell selbstbestimmte Frau für Aufsehen. Wer als Frau öffentlich zu sich selbst und seiner Sexualität steht, macht sich nach wie vor zur Zielscheibe weiter Teile der Gesellschaft. Während Männer immer noch recht unbehelligt ihrem Playboy-Dasein nachgehen können und dieses oftmals glorifiziert wird. Tut man das gleiche als Frau, kann man recht sicher sein, dass man bis ins kleinste Detail von kritischen, oberflächlichen Medien zerpflückt wird. Dass Frauen öffentlich noch vielerseits als Sexobjekt dienen: gar kein Problem für die breite Masse. Weibliche Sexualität objektifiziert geht überall voll klar. Selbstbestimmt? Nein, danke!

„I don‘t understand why it‘s okay, the guy can get away with it and the girl gets named“

Diese Doppelmoral zeigt sich auch recht deutlich durch die aktuelle Sexismus-Debatte, die besonders viel Aufmerksamkeit auf Twitter erhält. Dort wurde sie schließlich durch den Hashtag #metoo ins Rollen gebracht und gelangte darüber in verschiedene einschlägige Medien, wo sie mehr oder weniger Beachtung erfuhr. Unter dem Hashtag berichten Opfer von sexueller Belästigung und Missbrauch, die sie erfahren mussten. Auch ich habe mich zu dem Hashtag geäußert. Seitdem meine Brüste zu wachsen begangen, werde ich mit sexueller Übergriffigkeit durch Männer konfrontiert. Ich wurde so oft sexuell belästigt, dass ich mich weder genau an alle Situationen erinnern, noch sie zählen könnte. „Glücklicherweise“ hauptsächlich auf verbaler Ebene und immer in einem Maße, in dem ich mich noch wehren konnte. Dass ich „glücklicherweise“ schreibe, ist eigentlich das ironische an der Sache. Denn missbräuchliches Verhalten ist nie in Ordnung. Allerdings ist vielen Frauen, und auch Männern, weltweit extrem Schlimmes widerfahren. Zum ersten Mal haben sich Betroffene in dem Ausmaß zu Übergrifflichkeiten auf Twitter geäußert und sich weltweit Gehör verschaffen können. Sexuelle Belästigung ist leider kein Relikt der 1960er-Jahre, dem wir gesellschaftlich entwachsen sind. Sie ist allgegenwärtig, tagtäglich. Und oftmals ist sie in unserer Gesellschaft so normal, dass Täter und auch oftmals selbst die Opfer sie nicht als solche wahrnehmen. Dies zeigt sich auch ziemlich genau in der Debatte auf Twitter. Etliche Opfer sexuellen Missbrauchs durch zahlreiche Prominente Täter fassten endlich den Mut, sich zu Wort zu melden und die schändlichen Taten dieser Männer aufzudecken. Ehe man sich versah, wurden viele der Kläger zu Angeklagten. Klassisches victim blaming, die Schuld beim Opfer und nicht beim Täter suchen.

Sexuelle Belästigung ist leider kein Relikt der 1960er-Jahre, dem wir gesellschaftlich entwachsen sind. Sie ist allgegenwärtig, tagtäglich.

Das alte leidige Thema. Denn, wenn Frauen nicht sexuell belästigt werden wollen (excuse me?!), sollen sie sich gefälligst nicht so und so kleiden und nicht so und so verhalten. Ist doch ganz klar! Die Männer, die problematisches Verhalten an den Tag legen, müssen sich natürlich nicht wie normale, respektvolle Menschen verhalten. Viel zu viel verlangt! Als Mann im Patriarchat hat man halt offensichtlich kaum Pflichten, dafür sehr viele Rechte. Geschützt durch die Meinung der breiten Masse, die einem da den Rücken stärkt.

Twitter sorgt in diesem Zusammenhang für sehr viel awareness, indem viele Mneschen den Mut fassen, darauf aufmerksam zu machen, dass sexistisches Verhalten nicht okay ist. Aber es gibt auch eine Reihe an Problemen. Besonders unangenehm sind die Gegenstimmen derer, die die Erfahrung der Opfer herunterspielen wollen. Vielleicht, weil es Unbehagen in ihnen auslöst. Vielleicht, weil sie selbst etwas an ihrem Verhalten ändern müssten. Man dürfe Frauen nun ja gar nicht mehr ansprechen, musste ich mehr als einmal lesen. Da kann einem ja ganz schnell alles als sexuelle Belästigung ausgelegt werden. Nee, nee. Vorher nachdenken, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe… das ist mir zu anstrengend. Ich will lieber weiterhin schalten und walten, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. So oder so ähnlich, müssen Aussagen zustande kommen, die die Erfahrungen der Opfer lächerlich machen. Sexismus als Satire. Momentan ein ganz großes Ding der Twitter-Rebellen, die überraschend viele Frauen, um sich scharen, die offensichtlich absolut kein Problem damit haben, sexualisiert und in Gender-Klischees gepresst zu werden.

Lieber mit dem Unterdrücker verbünden, als sich mit anderen Frauen zu solidarisieren. Im Gegenteil: gern wird gegen Frauen, die sich auf Twitter gegen Sexismus äußern, von anderen Frauen mobilisiert und gehetzt, was das Zeug hält. Das ist eigentlich das, was mich am meisten im Zusammenhang mit der Debatte schockierte: wie sehr es auch heute noch an Solidarität unter Frauen mangelt. Ein anderes Problem ist, dass Twitter eine kleine elitäre Bubble ist. Die Plattform ist nicht repräsentativ für die gesamte Gesellschaft. Viele der Nutzer, die sich rege an den Debatten beteiligen, entstammen einer gewissen gesellschaftlichen Schicht mit Zugang zu Bildung und anderen Ressourcen, die einem das Leben erleichtern und erlauben, sich mit derartigen gesellschaftlichen Themen zu befassen. Es ist super, wenn so viel awareness geschaffen wird. Aber unsere Gesellschaft verlangt definitiv danach, dass das Thema unabhängig von sozialer Herkunft aufgegriffen und für alle verständlich gemacht wird. Denn Sexismus zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und ist nirgends okay oder vertretbarer. Nie und sollte es niemals sein!

Aber unsere Gesellschaft verlangt definitiv danach, dass das Thema unabhängig von sozialer Herkunft aufgegriffen und für alle verständlich gemacht wird.

In meiner Arbeit als Lehrerin sehe ich, wie Sexismus und Geschlechterunterschiede einfach weitergegeben werden. Aus meiner subjektiven Sicht würde ich sagen, dass es sogar noch eine Spur krasser ist als zu der Zeit, in der ich Teenager war. Mädchen werden nach wie vor als Schlampen niedergemacht, wenn auch nur der Verdacht auftaucht, dass sie sexuell aktiv sein könnten, während die Jungs als Kings gefeiert werden, wenn sie mit ihren sexuellen Eroberungen prahlen. Cybermobbing liegt quasi an der Tagesordnung. Profile auf Instagram und Facebook, die unter dem Deckmantel der Anonymität Gerüchte über Teenager veröffentlichen sind wahnsinnig beliebt. Kaum etwas ist für Teenager simpler als erhaltene Nacktaufnahmen und Chatverläufe mit mehreren Leuten gleichzeitig zu teilen. Und in Nullkommanichts weiß die ganze Schule bescheid, was Justin und Celina miteinander geschrieben haben und dass Michelle Cem ein Foto von sich im BH geschickt hat. Und der Erfahrung nach ist es das Mädchen, das unter den Folgen leiden muss. Solche Ereignisse ziehen Scham und gesellschaftlichen Verstoß nach sich. Dem Leben kann eine ganze Zeit lang nicht mehr normal nachgegangen werden. Genau solche Situationen musste ich schon mehr als ein Mal vom Rande aus mitansehen. Deswegen brauchen wir in der Gesellschaft dringend eine Veränderung! So, wie es seit Jahrhunderten läuft, kann es nicht weiter gehen!

„But the tables about to turn, I bet my fame on it“

Nehmen wir Lil’Kims Aussage in ihrem Part von „Can‘t hold us down“ für bare Münze, sieht es für die (sexuelle) Gleichberechtigung der Frau nicht so rosig aus. Denn ihr fame ist derzeit eher ein sinkender Stern. Dass sich aber etwas ändern muss, damit hat sie nach wie vor Recht. Doch wie kann das geschehen? Ist es nicht ein Kampf gegen die berühmten Windmühlen? Ich sage NEIN! Keine Frage: Es wird beschwerlich, es wird lange dauern, es wird ein Kampf. Aber wir sollten einfach die Kämpferinnen für uns selbst und andere Frauen sein, die es brauchen, dass Sexismus ein Ende hat. Jeder von uns sollte das tun, was er oder sie kann, um Sexismus immer stetiger aus unserer Gesellschaft zu verbannen. Das heißt: produce awareness. Und das kann man schon, indem man nicht mehr aus Verlegenheit über sexistische Äußerungen des Chefs schmunzelt. Dem aufdringlichen Kollegen zu verstehen gibt, dass er einen unbehaglich fühlen lässt. Dem Kumpel sagen, dass es nicht in Ordnung ist, Frauen als Schlampen zu betiteln, nur weil er einen Korb bekommen hat. Für den einen oder anderen erfordert das etwas Mut, aber jeder noch so kleine Widerstand hilft, langsam und stetig eine Veränderung herbeizuführen. Dies passiert leider nicht von allein. Und ganz wichtig: solidarisiert euch! Unterstützt einander, bietet anderen Hilfe an, steht Hand in Hand gegen die, die euch, uns klein machen wollen! Stellt euch nicht gegen die Opfer. Lasst euch nicht dazu herab, es denen, die es eh schon schwer haben, noch schwerer zu machen. Jeder von uns kann dies in seinem Tempo und nach seinen Möglichkeiten machen. Es erfordert lediglich ein wenig Mut. Und dann: I‘m sure the tables gonna turn! Ich gönne es ‚Lil Kims Karriere und besonders Frauen auf der ganzen Welt von Herzen.

Can‘t hold us down!

*Bildquelle: https://www.bgdblog.org/wp-content/uploads/2015/09/woc-feminism.png

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